Die Ankunft italienischer Arbeitskräfte in Wolfsburg ist eng mit der Geschichte des Volkswagenkonzerns verbunden. In den frühen 1960er Jahren stieg der Bedarf an Arbeitskräften, und Volkswagen wandte sich an Italien. Für die Unterbringung dieser neuen Mitarbeiter wurde eine spezielle Siedlung errichtet, die bald als das „Italienerdorf“ bekannt wurde. Dieses Dorf war mehr als nur eine Ansammlung von Häusern; es war ein Mikrokosmos, der die Herausforderungen und Hoffnungen der ersten Generation italienischer Gastarbeiter in Wolfsburg widerspiegelte.

Die Idee für das „Italienerdorf“ nahm im Oktober 1961 Gestalt an, als der Automobilkonzern bei der Stadtverwaltung Wolfsburg einen Antrag auf Baugenehmigung für Arbeitsunterkünfte stellte. Die Notwendigkeit, Tausende von Arbeitskräften unterzubringen, war drängend. Der Bau schritt schnell voran, und bereits im Sommer 1962 waren die ersten Gebäude bewohnt. Die Siedlung wurde bewusst am Rande der Stadt errichtet, in den Allerwiesen, nahe der Berliner Brücke. Dies entsprach einer gewissen Vorstellung der Verantwortlichen, die Bedenken hinsichtlich einer „Massierung“ lediger Arbeiter hegten. Solche Vorbehalte, wie sie etwa vom niedersächsischen Vizeregierungspräsidenten Kästner oder Polizeidirektor Sehrt geäußert wurden, fanden bei der Stadt und dem Werk jedoch wenig Gehör. Man entschied sich für die konzentrierte Unterbringung.
Das "Italienerdorf": Zwischen Planung und Realität
Die lokale Presse begleitete den Bau der Unterkünfte indes mit positiver Berichterstattung. Sie schilderte das „Italienerdorf“ als eine fortschrittliche Anlage. Berichte aus dem Sommer 1962 betonten die Fortschritte. Es wurde berichtet, dass weitere zweigeschossige Holzhäuser errichtet wurden, um bald über 4000 ausländische Arbeitskräfte aufzunehmen. Besonders hervorgehoben wurde die „Eingrünung der Anlage“. Planierraupen hatten während der Werksferien das Gelände eingeebnet, um Grassamen einzusäen, und viele Bäume waren gepflanzt worden, um das „Dorf-Bild“ aufzulockern. Auch die Gemeinschaftseinrichtungen wurden positiv dargestellt. Das erste von geplanten drei Gemeinschaftshäusern war bereits fertiggestellt. In dem großen Saal sollten über 1000 Personen Platz finden, was ihn ideal für gemeinsame Veranstaltungen wie Vorträge, Filmabende oder bunte Veranstaltungen machte. Die Verkaufsstellen wurden vergrößert, damit die Bewohner ihren täglichen Bedarf decken konnten. In einem weiteren Gemeinschaftshaus wurde ein Krankenrevier unter der Betreuung des Lagerarztes Dr. Cervelti eingerichtet. Für die Freizeitgestaltung gab es Pläne für eine Boccia-Bahn und einen kleinen Sportplatz. Am Eingang an der Berliner Brücke entstand ein kleines Pförtnerhaus, von dem aus alle Häuser telefonisch erreichbar sein sollten.
So idyllisch das Bild, das die lokale Presse zeichnete, auch erscheinen mochte, so irritierend waren andere Aspekte der Siedlung. Begriffe wie „Lagerarzt“ oder das in Verwaltungsakten häufig auftauchende „Barackenlager“ gaben Anlass zur Sorge. Darüber hinaus setzte der Volkswagenkonzern mit Ludwig Vollmann den einstigen „Lagerführer“ des sogenannten Gemeinschaftslagers in der „Stadt des KdF-Wagens“ als Leiter für das „Italienerdorf“ ein, wohl aufgrund seiner „Expertise“. Zwar war Vollmann bestrebt, den Ausdruck „Lager“ zu vermeiden, wie er der Welt erklärte, doch sprach er gleichzeitig von den „Capos“, die Verantwortung auf den Fluren der Häuser tragen sollten. Diese Begrifflichkeiten weisen eine bedenkliche Nähe zu denen des nationalsozialistischen Lagersystems auf, die nicht übersehen werden kann.
Trotz dieser problematischen Aspekte unterschied sich das umzäunte und durch den Werkschutz bewachte Holzhauslager für italienische Arbeitskräfte in Wolfsburg nicht grundlegend von anderen „Gastarbeiter“-Unterkünften in der damaligen Bundesrepublik. Auch die Tatsache, dass die fast 4.000 italienischen Arbeiter isoliert in den Allerwiesen untergebracht waren, war kein Wolfsburger Spezifikum. Diese bewusste Isolierung und „Massierung“ der italienischen Gastarbeiter trug jedoch maßgeblich zu einer Unruhe bei, die schließlich in einem überregional beachteten wilden Streik mündete.
Der "wilde Streik" von 1962: Ein Zeichen der Unzufriedenheit
In den ersten kühlen Tagen des Novembers 1962 machte sich in der Holzhaussiedlung der Allerwiesen ein Gefühl der Unzufriedenheit breit. Auslöser war, wie sich später herausstellte, eine mangelhafte medizinische Versorgung. Ein Vorfall brachte das Fass zum Überlaufen: Nachdem ein Gastarbeiter im städtischen Krankenhaus an den Folgen einer Hirnblutung verstorben war, fühlte sich ein weiterer Italiener krank. Es vergingen jedoch 40 Minuten, ehe der Krankenwagen die Unterkünfte nahe der Berliner Brücke erreichte. Diese Verzögerung eskalierte die Lage vor Ort.
Innerhalb kürzester Zeit versammelten sich größere Gruppen von Arbeitern vor ihren Unterkünften. Ihr Ärger entlud sich, und sie liefen auf den Berliner Ring, was zu beträchtlichen Verkehrsbehinderungen führte, wie die Wolfsburger Nachrichten am 6. November 1962 berichteten. Die italienischen Gastarbeiter hatten ihrem Zorn Luft gemacht. Sie legten für einen Tag die Arbeit nieder und riegelten zuvor die Ausgänge des Geländes hermetisch ab. Wahrscheinlich trug erst das Eintreffen des italienischen Generalkonsuls Gastone Guidotti zur Entschärfung der Tumulte bei.
Reaktionen und Folgen des Protests
Die Reaktion der Volkswagen-Leitung fiel, zumindest nach außen hin, nüchtern aus. Man wies jegliche Schuldzuweisung von sich und betonte in den lokalen Medien, man „dürfe […] die Ereignisse nicht überbewerten“. Intern war die Reaktion jedoch alles andere als nüchtern. Die „Ereignisse“ vom 5. November 1962 hatten drastische Folgen: 70 Entlassungen waren die Konsequenz für die streikenden Arbeiter. Zugeständnisse seitens der Konzernleitung gab es kaum. In einer Stellungnahme versicherte der leitende Konzernbetriebsarzt Dr. med. Fahrner gegenüber Hugo Dreyer, dem Leiter der Volkswagen-Sozialabteilung, dass es keinen Anlass gäbe, das Werkssanitätswesen zu verbessern. Seine Begründung: Es handele sich ohnehin nur um eine zusätzliche Leistung der Werksleitung.
Vom "Italienerdorf" zur Integration in Wolfsburg
Trotz der Spannungen und des Streiks sollten bis zum Abbau des „Italienerdorfs“ im Jahr 1977 keine weiteren Ausschreitungen dieser Art folgen. Eine einzelne Gewalttat auf dem Gelände blieb eine Ausnahme. Die Demontage der Holzhaussiedlung markierte einen Wendepunkt und vollzog sich im Zeichen eines einsetzenden Umdenkens in der Ausländerpolitik des Werks und der Stadt. Schon vor dem physischen Abbau der Unterkünfte hatten bildungspolitische Projekte einen wichtigen Integrationsprozess eingeleitet. Die italienischen Gastarbeiter, die einst isoliert wohnten, avancierten zunehmend zu einem festen und unverzichtbaren Bestandteil der Wolfsburger Stadtgemeinschaft.
Die Geschichte des „Italienerdorfs“ ist somit ein bedeutendes Kapitel in der jüngeren Geschichte Wolfsburgs. Sie erzählt von den anfänglichen Herausforderungen der Migration, den schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen, den Momenten des Protests und schließlich dem langen, aber erfolgreichen Weg der Integration. Die italienische Gemeinschaft hat die Stadt Wolfsburg nachhaltig geprägt und bereichert.
Häufig gestellte Fragen zum "Italienerdorf"
Warum wurde das „Italienerdorf“ in Wolfsburg gebaut?
Es wurde vom Volkswagenkonzern in den frühen 1960er Jahren errichtet, um die große Zahl italienischer Arbeitskräfte unterzubringen, die für das Werk angeworben wurden.
Wie viele Arbeiter sollten dort wohnen?
Die Anlage war darauf ausgelegt, über 4000 ausländische Arbeitskräfte aufzunehmen.
Wo befand sich das „Italienerdorf“?
Es lag am Rande der Stadt Wolfsburg, in den Allerwiesen, nahe der Berliner Brücke.
Was war der Auslöser des Streiks im November 1962?
Die Unruhen und der Streik wurden durch Unzufriedenheit ausgelöst, insbesondere durch Mängel in der medizinischen Versorgung und einen Vorfall mit einem Krankenwagen, der zu spät eintraf.
Welche Folgen hatte der Streik für die Arbeiter?
Nach dem Streik wurden 70 Arbeiter von Volkswagen entlassen. Das Management spielte die Bedeutung der Ereignisse herunter.
Wann wurde das „Italienerdorf“ abgebaut?
Die Demontage der Holzhaussiedlung erfolgte im Jahr 1977.
Wurden die italienischen Gastarbeiter in die Stadtgesellschaft integriert?
Ja, trotz anfänglicher Isolation und Schwierigkeiten wurden durch Initiativen wie bildungspolitische Projekte Integrationsprozesse eingeleitet, und die italienischen Gastarbeiter wurden zu einem festen Bestandteil der Wolfsburger Gemeinschaft.
Wie viele Italiener leben heute in Wolfsburg?
Die uns vorliegende historische Quelle gibt keine Auskunft über die aktuelle Anzahl italienischer Einwohner in Wolfsburg. Sie beschreibt die Situation der Gastarbeiter in den 1960er und 70er Jahren.
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